Zitronen

Zitronen

von Valerie Fritsch

Wenn ich jetzt Bücher zu lesen beginne, dann lasse ich oft absichtlich den Klappentext oder Inhaltsangaben aus, einfach um einerseits möglichst unvoreingenommen in den Text hineingehen zu können und andererseits, um mir selbst nichts vorwegzunehmen. Da spielt natürlich auch eine Rolle, was und wie viel ich bisher schon gelesen habe.

Valerie Fritschs neues Buch, mein erstes von ihr, war ein Wahnsinnsgemälde, ein Goya, das mich unvorbereitet, im Zentrum seines eigenen Saals hängend, erwischt hat, umgeben von nichts als weißen Wänden und dem weißen Rauschen der Luft. Die ersten Sätze sind entscheidend, der erste Absatz vielleicht, wie intensiv ich mich von einem Buch packen lasse. Ein unpassender Vergleich, ausuferndes Schwadronieren, zwanghaft eingesetzte Spannungsmomente und schon setzt bei mir das Querlesen ein.
Bei „Zitronen“ hatte ich gar keine Wahl. Schon der erste reduzierte Satz, die ersten Wörter und ich hatte das Gefühl, das Dorf, die Häuser, die Straße, in der wir gehen, die Menschen zu kennen. Die Nachbarn, die Dorfgemeinschaft, all das war bekannt und wollte gekannt sein.

Die Nachbarn, die seit Jahren auf die Rückkehr des verschwundenen Kindes warten, der Vater, gewalttätig, verletzt und verletzend, die Mutter, erdrückend und zerstörend und aufgelöst und der Sohn, der lernt, dass Liebe das ist, was man Hunden eher angedeihen lässt als dem eigenen Kind, dass Liebe wehtut, wehtun muss, wenn sie echt sein soll, all das ist Teil des ersten Eindrucks.

Das Erdrückende und das Schöne entsteht nebeneinander. Auseinander vielleicht.

Vielleicht kennt man es gar nicht anders, wenn man nichts Anderes kennt, und irgendwann kann man gar nicht mehr anders, selbst wenn man wollte. Aus der Distanz und in Reflexion schaut das furchtbar aus, weiß man es nicht besser, muss das Furchtbare, zumindest in Quäntchen, nur in kleinen Details, auch das Schöne sein. Und was folgt daraus, aus einem Aufwachsen im Düster? Aus einem geglückten Herauswachsen, aus der Erkenntnis, dass es doch wirklich noch etwas anderes gibt? Wie hell muss einem die Sonne sein, wenn da bisher nur Finsternis war? Wie süß müssen Zitronen schmecken, wenn da bisher nur Bitternis war?

Die Verzweiflung, erkennen zu müssen, dass einem das Leben schuldlos verdorben ist, dass einem nichts anderes übrig bleibt, als aus einem Scherbenhaufen zu trinken, weil es im ganzen Haus kein Glas mehr gibt, das heil und ganz ist, die Erkenntnis, dass man vielleicht was ändern hätte können, aber dass es irgendwann zu spät war, all das erzählt Valerie Fritsch.

Valerie Fritsch hat etwas Erschreckendes erzählt mit dem Können, mit der Gabe und der Inspiration einer Künstlerin. Die Gewalt, die über Generationen hinweg durch die Adern einer Familie fließt, bricht nicht nur die unmittelbar Betroffenen, sie bricht das Licht, durch das wir sehen.
„Zitronen“ ist mir ein atemberaubendes Meisterwerk.


Suhrkamp 2024
978-3-518-43172-6

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