Fabula Rasa
von Vea Kaiser, Kiepenhauer & Witsch
So it goes.
„Life is what happens to us while we are making other plans.“ – Allen Saunders

Lange Zeit rückt Vea Kaiser nicht damit heraus, was sie zu Anfang von „Fabula Rasa“ verspricht: ein Diebstahl, so umfangreich, von so unerhörtem Ausmaß, von so außerordentlicher Geschicklichkeit, dass es sich dabei nur um eine Heldinnentat handeln kann, wurde er doch von der Tochter einer Hausbesorgerin begangen.
Und die Bestohlenen? Erben, Besitzer eines Grand Hotels mit engen Verbindungen zum Hochadel, zu den „Eliten“, die bemerken gar nicht, wenn ihnen ein so lächerlicher Betrag wie 3 ½ Millionen abhandenkommt. Robin Hood quasi. Aber hier irren wir, und zwar gewaltig.
Gleich zu Beginn wird sie von der Autorin im Gefängnis besucht, Angelika Moser, die Buchhalterin, die dem Grand Hotel Forcher 3 ½ Millionen gestohlen hat. Doch darum geht es vorerst nicht, denn noch ist Angelika Moser weder in der Position, dieses Geld zu hinterziehen, noch braucht sie es. Obwohl: Brauchen könnte sie es schon. Als Tochter einer Wiener Hausbesorgerin mit dem Hang zum exzessiven Nachtleben fehlt es zwar nicht an allen Ecken und Enden, aber auf der Kante hat sie trotzdem nicht allzu viel, und hätte sie nicht die Erlaubnis einer Nachbarin, in der kleinen Wohnung mit Klo am Gang zu wohnen, sie würde mit Anfang/Mitte zwanzig immer noch bei ihrer Mutter daheim wohnen. Und war das schlecht? Nein, alle haben sich um sie gekümmert, der ganze Veza-Canetti-Hof war für das Mädel mit dem Geburtstag am 29. Februar da, alle vier Jahre eine Geburtstagsparty im Waschraum, später dann im Eiscafé. Nur der Papa, der war nicht da, wozu auch, der Hallodri.
Und schnell wird klar, wir wollen, dass sie endlich stiehlt, dass sie endlich zugreift. Ein genialer Plan, perfekt getimt, ein bisschen schräge, aber treue Freundinnen, die ganz spezielle Fähigkeiten haben, und schon gehören die 3 ½ Millionen ihr – und dann ab auf die Insel! Wünschen wir uns das? Vielleicht. Aber die Autorin ist keine Fee und ihr Buch kein Wunschbrunnen. Das hätte eine KI vielleicht so geschrieben, Vea Kaiser lässt uns nicht so einfach davonkommen. Die noble, aber geniale Arme? Der elitäre reiche und gewissenlose Vermieter? Kein Mensch ist so platt, niemand so zweidimensional, nichts so zweifarbig, wie es Trash-TV-Formate, Heist-Movies, Social-Media-Reels oder Populisten einreden wollen.


Was Glück in der Geburtslotterie für ein Leben bedeutet, kann man wohl erst beurteilen, wenn man sowohl den Geschmack des goldenen Löffels als auch den des Blechdeckels von Dosenpfirsichen kennt (oder den eines geschmolzenen Eiskonfekts, das man stundenlang in der Jackentasche versteckt hat, damit man nicht teilen muss). Was die da oben von denen da unten unterscheidet, versteht man nach der ersten Hotelszene, nach dem ersten Aufeinandertreffen von Angelika Moser mit dem Hoteldirektor oder dem ersten Beobachten der Gäste, wobei auch hier vielleicht Verwunderung aufkommen kann, aber kein Hetzen, keine Häme. Das überlässt Angelika Moser ihrer Mutter, die hat die Gfüllten gfressen, und mit nichts könnte man sie tiefer beleidigen, als sie für einen von denen zu halten, auch wenn sie sich alljährlich den Opernball im Fernsehen anschauen.
Was die da oben und die da unten gemeinsam haben, ist mir erst nicht so schnell klar geworden, doch letztens, und mein Gehirn will sich partout nicht mehr erinnern, in welcher Situation, ist es mir eingefallen: Sowohl Angelika Moser als auch der Direktor kennen Verzweiflung und Not, wenn auch aus anderen Gründen und in anderer Intensität. Sowohl Angelika Moser als auch die Gäste im Hotel wollen Erwartungen erfüllen, brillieren, glänzen, geliebt werden und beide, die oben und die unten, beide haben den festen Glauben daran, gleich neben all der Angst und der Not, dass sie im Endeffekt alles im Griff haben. Straucheln? Ja, vielleicht. Stolpern? Auch, aber dann stehen wir wieder auf. Besoffen im Stiegenhaus liegen? Unter einem Regal herumkriechen, eine feindliche Übernahme, ein gesellschaftlicher Skandal, sich am Klo verstecken? Sicher, aber morgen ist auch noch ein Tag und auf die Frau Moser ist Verlass.
Vea Kaiser führt uns unumwunden dorthin, wo das Leben stattfindet: aufs Glatteis. Mit einem solchen Schwung und selbstverständlicher Sicherheit, dass wir glauben, das Eis würde halten.

Zu Anfang und zum Schluss wird mir eines klar: Das Stolpern und das Fallen haben die da oben und die da unten gemeinsam, die Landung macht den Unterschied.
Wie es der Autorin gelungen ist, eine so ausbalancierte, vielschichtige, berührende und unterhaltsame Geschichte zu schreiben, so dreckig-erdig und zugleich liebevoll, verstehe ich nicht. Was von der Geschichte tatsächlich wahr ist und was erfunden, werde ich wohl nie wissen. Muss ich aber auch nicht. Zum Glück. Ein Punschkrapferl schmeckt auch dann gut, wenn ich nicht weiß, wie es gemacht wird.
– Johannes

Fabula Rasa
von Vea Kaiser
Kiepenheuer & Witsch

