Oracle

Oracle

von Ursula Poznanski

Es ist wohl die große Begabung von Ursula Poznanski, sich ins Seelenleben männlicher Jugendlicher einzufühlen. Wie sie das macht, verstehe ich nicht ganz, aber mit jedem ihrer Bücher, in dem ein Jugendlicher eine Hauptrolle spielt, trifft sie mitten ins Schwarze.

Oracle“ trägt – wenig überraschend – den Cassandra Mythos in seinem viel umblätterten Herzen. Julian, inzwischen gut medikamentös eingestellt, dem Mobbing seiner Kindheit entwachsen, hat es endlich geschafft. Seine Psychose ist unter Kontrolle und die schrecklichen Visionen, die er vor seiner Therapie hatte – die ihm seine Mitmenschen nur halb, ohne Gesicht oder ohne Beine, von blutrotem Nebel oder grauschwarzen Rauch aus den Augen wallend sehen ließen – sind verschwunden und seine Panikattacken hat er unter Kontrolle. So weit unter Kontrolle, dass seine Eltern ihm sogar erlauben auf die Uni zu gehen und in ein Studentenheim zu ziehen, wenn er weiterhin regelmäßig seine Therapie besucht und seine Medikamente nimmt. „Du hast Fortschritte gemacht!“, ist sich auch seine Therapeutin sicher und ermuntert ihn, ein Klassentreffen zu besuchen. Ein Klassentreffen bei dem genau die Menschen anwesend sein werden, die von seinen Schreien, seiner Angst und seinem Schock ob ihres verstörenden Aussehens so irritiert waren und mit Abwehr und Abscheu reagiert haben. Aber Julian fühlt sich dem Gewachsen und sieht es als weiteren Schritt in Richtung Selbstverantwortlichkeit.

Im Studentenheim hat er Freundinnen und Freunde gefunden, die Therapie läuft gut und so ist er am vereinbarten Termin vor Ort, um sich seinen ehemaligen Peinigern, allen voran Lars zu stellen. Doch als eine ehemalige Kollegin ankommt, erstarrt Julian. Sie, deren Beine immer nur hinter rotem Nebel verborgen waren, sitzt nach einem schweren Unfall im Rollstuhl. Wenige Tage später erreicht ihn über eine ehemalige Mitschülerin die Nachricht, dass ein Klassenkollege, dessen Gesicht immer von einem schwarzen Balken in zwei Teile geteilt war, einen Motorradunfall hatte, den er zwar knapp überlebt, der sein Gesicht aber genau an der Stelle, an der Julian den „Marker“ gesehen hat, wie er das nennt, entstellt hat. Julian ist entsetzt und trifft eine folgenschwere Entscheidung: Er setzt seine Medikamente ab. Und schließlich, langsam, aber sicher, tauchen die Zeichen wieder auf und drängen sich unaufhaltsam in Julians neues Leben. Unheimlich und spannend erzählt die mehrfach ausgezeichnete Wiener Bestseller-Autorin ihr Experiment und schafft es, sowohl Thriller als auch Entwicklungsgeschichte unterzubringen.

Ursula Poznanskis ehrlicher und fundierter literarischer Umgang mit den Ursachen und Auswirkungen psychischer Krankheiten, den Gründen und Folgen von Ausgrenzung und Mobbing macht „Oracle“ zu einem Gewinn und einem Must-Read für jugendliche und erwachsene Fans von Poznanskis All-Age-Thrillern.


Loewe Verlag 2023
978-3-7432-1658-7

Hier geht’s zum Onlineshop


Beitrag veröffentlicht

in

, ,

von

Schlagwörter:

× Schreib uns auf Whatsapp!