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von Elias Hirschl

Das sind die 221 Seiten, die sie gelesen haben müssen, bevor ihr Leben vorbei ist (Seite 162 bis Seite 169 werden sie zum Weinen bringen!).

Wir befinden uns irgendwo in einer nicht allzu fernen Gegenwart, ganz in der Nähe von dort, wo wir nicht sind; von der 1989 von Tim Berners-Lee in der Schweiz geäußerten Grundidee, „Das World Wide Web ist eine großräumige Hypermedia-Initiative zur Informationsbeschaffung mit dem Ziel, den allgemeinen Zugang zu einer großen Sammlung von Dokumenten zu erlauben.“, ist nicht mehr viel übrig. Oder vielleicht gibt es inzwischen zu viel davon, so genau ist das nicht zu sagen.
Wurde „Mesh“, die erste, im März 1989 geäußerte Bezeichnung für das WWW, noch verworfen, weil es zu sehr nach dem englischen „mess“ klang, so hat sich das WWW im Laufe der letzten 35 Jahre wieder dem Ursprungsbegriff angenähert. 2012 zählte das WWW 44 Millionen Domains, so waren es 2020 schon über 370 Millionen, alles angefüllt mit Milliarden und Abermilliarden von Informationen. Bei SmileSmile Inc. arbeiten die Content-Kreatoren unermüdlich am Zuckerguss des weltweiten Informationsaustauschs, sie produzieren Listen. Listen, Videos, Lifehacks, Trends und neue Dancemove-Tutorials. Es gibt eine eigene Küche, eine Schrottpresse, Bots, die Listen schreiben mit den zehn wichtigsten „I can´t believe that´s Cake“-Videos, die man gesehen haben muss (Nummer 7 wird dich zu Tränen rühren) und Videos von Dingen, die von einem Blender zerkleinert werden. Sie schreiben pseudogruselige Geschichten, die zu pseudogruseliger Musik erzählt werden, während im Video ein Backtutorial läuft. Die Möglichkeiten scheinen unendlich. Aber ist die Unendlichkeit möglich?

Elias Hirschl stößt seine Protagonistin in eine konturlose Welt, deren Böden unterminiert, deren Alltag von Wahnsinn und Langeweile überflutet sind, wie auch die Straßen und Häuser der Stadt. Nichts ist relevant, nur die nächste gestohlene Sekunde zählt. Atemlos drischt „Content“ mit himmelschreiendem Witz auf unsere, von der hunderttausendsten Insta-Story, weichgespülten Gehirne ein. Konsequent und ohne Erbarmen zelebriert der Wiener Autor eine letzte absurde Weissagung: Erst wenn der letzte Witz erzählt, die letzte Serie gestreamt und das letzte Katzenvideo angesehen ist, werdet ihr merken, dass man Kuchenvideos nicht essen kann.

Wer „Content“ gelesen hat, den erwartet keine Offenbarung, kein Rückschluss und keine Moral, einzig schwindelerregende Übelkeit, ob der Sinn- und Bodenlosigkeit mancher menschlichen Vorhaben. Einzig das Echo unseres, in der sinn- und konturlosen Leere verschallenden Lachens über den exzellenten und außergewöhnlichen Witz des Autors, bleibt, und die Frage, wovon dieses Echo zurückgeworfen wird, wenn denn alles ausgehöhlt ist und das Mögliche keine Grenzen kennt.


Paul Zsolnay Verlag 2024
978-3-552-07386-9

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