Es graust mir
In einem Bilderbuch hat politische Hetze nichts verloren. Ich dachte, das wäre selbstverständlich.
Kindern wird vorgelesen, sie schauen sich Bilder an und lesen selbst, ob mit Buchstaben oder ohne. Das ist eine der ersten Formen von selbstbestimmtem Lernen. Politische Vereinnahmung und Hetze hat da nichts verloren.
Die Maus hat Angst und schafft trotzdem, was sie will, das bunte Tier entdeckt, dass es nicht wie andere sein muss, das kleine Tier lernt laut „Nein!“ zu sagen und drei komplett unterschiedliche Bären, helfen sich gegenseitig. Der Spatz lernt, dass es ok ist, nicht mitzumachen und dass wir mit unseren Gefühlen spielen, ja, manchmal sogar mit ihnen umgehen können und nicht umgekehrt.
In all diesen Geschichten, berührend, gruselig, liebevoll, faszinierend und wunderbar, geht es einerseits um grundlegende soziale und psychologische Fähigkeiten und Fertigkeiten, die wir erlernen, erfahren und – über erzählte Geschichten austesten und das erste Mal ausprobieren können in der vermeintlich sicheren Umgebung unserer Vorstellungskraft. Andererseits geht es um die Freiheit unserer Gedanken.
Wir lernen, uns etwas zu trauen, vor dem wir vorher Angst hatten, wir lernen die Worte, die wir brauchen, um das zu sagen, was wir vorher nicht sagen konnten, und wir lernen, was wir sein können, wenn wir nur wollen.
Wir lernen mit Enttäuschungen umzugehen und mit Streit und dass es manchmal wichtiger ist eine Tür aufzumachen, als alle fest zuzuhalten. Wir lernen, dass Worte wehtun können und, dass man mit Wut und Hass mehr Dinge zerstört, als wiedergutmacht.
Und wir lernen vor allem eines: Hinschauen. Genau und differenziert hinschauen und überlegen, was wir da jetzt gesehen haben und wie wir darauf reagieren wollen.
Wir vergleichen, was wir in der Geschichte lesen und was wir in der Welt sehen und erleben und, unter anderem, daraus, bilden und bauen wir unser Weltbild und unsere Meinungen und Ansichten.
Oft ist es auch gar nicht nur der Inhalt, um den es geht, sondern allein das Zutrauen, das wir den Kindern entgegenbringen, dass sie imstande sind, sich eine eigene Meinung zu bilden.
Politische Meinungen und Hetze (und das ist diese Broschüre) Form eines Bilderbuches zu transportieren nimmt Kindern und Jugendlichen das, was diese Partei in ihrem Namen verspricht. Die Freiheit. Die Freiheit sich selbst ein Bild zu machen. Die Freiheit aufgrund von Erfahrung und Erlebnissen zu entscheiden, die Freiheit zu lernen.
Politische Hetze und Meinungen Kindern als Spaß und lustige Geschichte unterzujubeln, zeigt für mich relativ deutlich, welche grundfalschen Vorstellungen bei den Verfassern dieser Broschüre darüber vorherrschen zu scheinen, welche Art von Verantwortung sie als erwachsene Menschen, als Politiker und Vorbilder haben.
Hinzu kommt, dass es genau jene populistische Gruppe war, die sich über „Frühsexualisierung“ im Rahmen von Vorlesestunden (das Buch, das im Rahmen der Veranstaltung in der RosaLila Villa vorgelesen wurde, war „Die Prinzessin in der Tüte“ von Robert Munsch, erschienen im Ravensburger Verlag) echauffiert hat – u.a. weil das Buch von einer Drag Queen vorgelesen wurde. Hier sind deutlich zu erkennen, welches Maß an Realitätsverlust hier bereits raumgreifend vorhanden ist, aber auch, zu welchem Maß an rücksichtsloser Instrumentalisierung diese Gruppierung bereit ist.
Was mich fast noch mehr erschreckt, ist, dass es offenbar keine Kontrollmechanismen innerhalb der Partei gegeben hat, die das Publizieren und Verteilen dieser Broschüre aufgehalten haben. Es mag als Spaß angefangen haben, es mag als Dummheit anfangen haben oder als bsoffene Gschicht, das ist alles möglich.
Hier ist jedoch eine populistische Organisation am Werk, die offenbar in ihren Strukturen nicht davor zurückschreckt und es nicht verwerflich findet, Kindern den Weg zu eigenen Meinungen, eigenen Vorstellungen, einer eigenen Welt zu verwehren.
Was sie damit anrichtet, wird kleingeredet, negiert und abgewunken. Es ist wär ja nur ein Spaß gewesen, werden sie vielleicht sagen. Wir wussten davon nichts, wird es heißen, dass diese Broschüre an Kinder und Jugendliche verteilt wurde.
Es fängt klein an. So klein, dass wir es vielleicht durchschlupfen lassen. Und doch ist klar erkennbar, was hier passiert. Hier wird Kindern ihre, zum Lernen und zum Erkennen der Welt notwendige Freiheit verwehrt, jene Freiheit, sich selbst eine Meinung zu bilden, jene Freiheit, selbst zu bestimmen, was sie sich trauen, wem sie trauen und was sie denken und dieser Vorgang ist abscheulich, verwerflich und falsch. Verantwortung wurde bis jetzt, soweit ich das mitbekommen habe keine übernommen. Das hätte mich auch gewundert.
Johannes Kößler