Spatriati
von Mario Desiati

Claudias Vater, angesehener Chirurg und liebender Vater beginnt ein Verhältnis mit Francescos Mutter, Krankenpflegerin im selben Krankenhaus wie Claudias Vater. Beide sind in der außerehelichen Liebe glücklich, glücklicher als in den Beziehungen zur vorsichtigen und besitzergreifenden Frau oder zum jammernden und nichtsnutzigen Mann, doch aus der Ehe auszubrechen kommt im konservativen Dorf Martina Franca inmitten Apuliens nicht in Frage. Lieber akzeptieren die Ehepartner:innen das wochenlange Verschwinden der Verliebten, als zuzugeben, dass ihre Ehe in die Brüche gegangen, dass sie versagt, einen falschen Lebensweg eingeschlagen haben.
Für Francesco, der von seiner Mutter ob seiner gebräunten Haut und seiner dunklen Haare „schwarze Traube“ gerufen wird, ist von nun an klar, dass Claudia und er füreinander bestimmt, ihr Leben und ihr Schicksal auf ewig verflochten sind.
Und obwohl die beiden unterschiedlicher nicht sein könnten, und obwohl Claudia eher mit einem über 50-jährigen Mafiosi eine Affäre anfängt, als eine Beziehung mit Francesco in Betracht zu ziehen, erzählen sich die beiden alles. Denn sobald Claudia ruft, ist Francesco da, auch wenn der Ruf aus London oder Berlin erklingt.
„Spatriati“ ist eine Bezeichnung für das ziellose, das ungeplante und unvorhersehbare Umherirren, das Laufen, ohne zu wissen, wohin; das Anstoßen, Anecken und Niederrennen, weil etwas im Weg steht, der Blitz, der dich durchfährt, wenn ein Tor vor dir aufgerissen wird und du plötzlich Licht erblickst und weißt, jetzt musst du loslaufen oder für immer zurückbleiben.
„Spatriati“ ist eine heiß brennende Liebesgeschichte, in der, entgegen aller Annahme, es nicht um die Liebe zwischen Claudia und Francesco geht, sondern um die Liebe zum Leben und dem Leben, dass dich links liegen lässt.
Ausgezeichnet mit dem Premio Strega, erzählt „Spatriati“ von der Diskrepanz zwischen Potenzial und Möglichkeiten, zwischen Wollen, Können und dem Gefühl, mit einer Kette am Bein auf dem Grund eines schlammigen Tümpels festsitzen zu müssen, wenn du eigentlich nur eines willst: Atmen. „Spatriati“ ist ein Lebensbuch, vorsichtig und wild zugleich, durchdacht, komponiert und überraschend und echt in einem. So berührt hat mich selten ein Werk.