#8 „Fahrts endlich, ihr Gsch***!“
Ein Plädoyer für das Fahrrad
Fahrrad fahren ist etwas Feines. Wenn ich es mir aussuchen kann, fahre ich immer mit dem Rad, bei fast jedem Wetter. An der Luft sein, Bewegung und Flexibilität geben mir einfach ein gutes Gefühl. Doch mir fällt auf, niemand mag Fahrradfahrer und Fahrradfahrerinnen. Sogar Fahrradfahrer und Fahrradfahrerinnen mögen keine Fahrradfahrer und Fahrradfahrerinnen. Regelmäßig werde ich am Fahrrad beschimpft. Beschimpft, angemotzt, angehupt, böse Blicke erhalte ich und sogar den Vogel bekomme ich gezeigt. Und oh nein, nicht weil ich mich nicht an die Verkehrsregeln halte*, sondern gerade weil ich es tue. Oder einfach nur so.
Jüngst, als ich mich behelmt auf den Weg in die Arbeit machte, kam es zu folgender Situation:
Goldschlagstraße/ Ecke Gürtel, 7 Uhr 45. Gemeinsam mit anderen Fahrradfahrenden warte ich bei der roten Ampel darauf, dass sie grün wird. Hinter uns 2 oder 3 Autos. Wir Fahrradfahrer und Fahrradfahrerinnen müssen geradeaus den Gürtel queren, die Autofahrer und Autofahrerinnen müssen nach rechts fahren. Nun wird die Ampel orange, alle bereiten sich vor, sie wird grün, alle fahren los. So schnell wir können treten wir in unsere Pedale. Aber wir sind nicht schnell genug. Hinter uns wird das Fenster eines Autos heruntergelassen, man hört eine Stimme, sie ist sehr wütend: „JETZT FAHRTS ENDLICH, IHR GSCHISSANEN!“
Niemand ist schockiert, alle tun so, als wäre nichts passiert. Warum? Siehe oben. Es ist Alltag. Vielleicht wäre der Alltag der Wiener und Wienerinnen etwas weniger wutbehaftet, wenn sie frühmorgens auch mit dem Fahrrad führen, anstatt sich bei schönstem Wetter ins Auto zu schmeißen und die 5km in die Arbeit im Stau stehend zu bestreiten. Vielleicht käme es dann auch zu weniger Unfällen. Wer weiß das schon so genau.
„Schon früh wohnt dem Freiheit und Unabhängigkeit versprechenden Radeln etwas anarchisches inne, wird daher von Obrigkeit und Publikum misstrauisch beäugt und als reglementierungsbedürftig eingestuft.“ (Österreich fährt Rad. S. 7.)
Ein Zitat, das die Zeit um 1869 einfängt. Man merkt, es hat sich nichts geändert. Ist kein Rechtsorgan vor Ort wird das Reglementieren liebend gern von jemand anders übernommen. Ob gerechtfertigt oder nicht. Heute wie damals.
Aber genug der Suderei! Der Verlag Winkler-Hermaden hat ein wunderbares Buch herausgebracht, das zeigt: Österreich fährt Rad. Das ist nun einmal so. Und genau so ist auch der Titel des Buches: „Österreich fährt Rad. 150 Jahre Fahrradgeschichte in Bildern.“ In wirklich schönen historischen Aufnahmen wird hier die Fahrradgeschichte in Österreich erzählt, ergänzende Bildtexte und Kapiteleinleitungen spiegeln den Zeitgeist wider und zeichnen neben den bautechnischen Veränderungen des Fahrrads ein Bild einer sich nicht verändernden Fahrradpolitik. Gut, nicht verändert ist vielleicht übertrieben. Fahrradwege wurden ausgebaut, das stimmt. Aber ganz ehrlich, es gibt noch genug Straßen, die ohne Fahrradstreifen auskommen müssen, mit starkem Autoverkehr und Straßenbahnschienen. Die ständige Angst eine Autotür ins Gesicht zu bekommen und/oder in die Schienen zu geraten und anschließend von den zu knapp fahrenden Autos überfahren zu werden, sind wohl leider Teil der Experience. Schon Ende des 19. Jahrhunderts war man der Meinung, dass es „Konzepte zur Förderung des Radverkehrs“ nicht unbedingt braucht (siehe S. 123). Erst in den 1980ern wurden Radweginitiativen gestartet, das ist nun etwa 40 Jahre her, man war wohl eher zögerlich bei der Sache.
Jetzt aber wirklich Schluss mit der Suderei! „Österreich fährt Rad“ ist eine große Empfehlung für alle Geschichte-Fans, Fotografie-Begeisterten, Politik- und Sozialhistorikinteressierten und Fahrradfahrer und Fahrradfahrerinnen. Es ist für (fast) jeden etwas dabei!
Zum Abschluss möchte ich kurz auf das gerade trendende Thema der Achtsamkeit zu sprechen kommen. Geben wir doch alle etwas mehr aufeinander acht. Nehmen wir alle unser Umfeld wahr und passen aufeinander auf. Dann sind vielleicht ein paar weniger Gschissane unterwegs!
– Anna
*wie jedem anderen passieren auch mir Fehler im Straßenverkehr, ich möchte mich in keiner Weise ausnehmen!
Österreich fährt Rad
von Marschik, Edgar & Wehap
Edition Winkler-Hermaden 2023
978-3-9505166-5-4
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