#34 Don’t judge a Book by its Cover …

#34 Don’t judge a Book by its Cover …

Es ist ungewöhnlich, nach so und so vielen gelesenen Kriminal- und überhaupt Romanen noch überrascht werden zu können. Überrascht von Persönlichkeiten, Ehrlichkeit, Dramatik, Dialogen, Sprache oder überhaupt, der Handlung, dem Tempo, dem Rhythmus. Irgendwann hat man ein Gefühl dafür und eine unterbewusste, lästige, aber fast permanent präsente Stimme, die dir einflüstert: „Der wars!“ oder „Pass auf, jetzt kommt gleich der Mörder!“; wie ein Typ, mit dem man das erste Mal ins Kino geht und dann kommt man drauf, der hat den Film schon mal gesehen und quatscht die ganze Zeit dazwischen.

Auf „Die Frauen von Shonagachi“ hab ich mich schon gefreut, als ich es im Verlagskatalog vom Ariadne Verlag gesehen habe. Einerseits, weil ich bei Ariadne so gut wie noch nie enttäuscht worden bin und auch, weil ich überrascht war, ein gutes Cover zu entdecken – bitte entschuldigt, Grafikteam von Ariadne, aber eure Werke sind normalerweise die Manifestation des englischen Sprichwortes „Don´t judge a Book by it´s Cover!“ – und weil es ein Buch aus einem Teil unserer Welt ist, von dem ich nichts weiß, aber wirklich absolut oder so gut wie gar nichts und weil ich noch nichts von einer Autorin gelesen habe, die von dort kommt. UND, weil es sich um ein Debüt handelt. Das ist so was wie, eine geheime Schatztruhe, versteckt in einer bisher unentdeckten Höhle mit unbekanntem Inhalt, umgeben von einem mystischen Schein einer Laterne, in der wer weiß was brennt.

Ich glaub, ich hab noch nie 335 Seiten so begierig und schnell verschlungen. Der Wahnsinn! Diese Konsequenz! Dieser Witz! Dieser Schrecken! Die Ehrlichkeit! Die Personen! Das Tempo! Die Sprache! Die Vielschichtigkeit! Die Dialoge! Der Rhythmus! Die Übersetzung!!!! Die lästige Stimme aus meinem Unterbewusstsein hat Schnappatmung bekommen.

Tilu Shau, der mittelmäßig oder vielleicht halbwegs erfolgreiche, äußerlich und innerlich aber wenig, bis gar nicht beeindruckende Autor unbedeutender erotischer Romane, in denen es um eine verführerische Schwägerin geht, die unzählige erotische Abenteuer erlebt und wer weiß wen verführt, kann von seinen Werken mehr schlecht als recht leben, allerdings auch nur, weil er ein Zimmer und eine Außenküche geerbt hat, in einem Haus, um deren Inhalt sich die verschiedensten Zweige seiner Familie seit Generationen streiten und damit einem Heer von Anwälten eine ergiebige, aber vollkommen sinnbefreite Einkommensquelle sichern. Wenn er ein wenig Geld übrig hat, besucht er Lalee, eine Prostituierte im Rotlichtviertel Shonagachi, Kalkutta, Westbengalen, Indien. Sie ist seit einigen Jahren im Gewerbe, lebt mehr schlecht als recht, aber schafft es, mit Hilfe der Madame und ihrer Handlanger, die sie damals von ihrem Vater gekauft hat, sich die richtig unangenehmen Freier vom Hals zu halten. Als Lalee und er dabei sind, das Geschäft abzuwickeln – nach dem Einheben des Vorabtarifs – hören sie Schreie aus dem Nebenzimmer des Bordells, Lalee stürzt auf, stürmt in den nächsten Raum und schubst den verdatterten, nackten, außer Atem geratenen Autor aus ihrem Zimmer. Sie jagt ihn mit Flüchen und Tritten hinaus auf die Straße, seine Kleider an sich gepresst, zwischen seinen Beinen noch immer eine Erektion. Was dann folgt, ist so unglaublich erbärmlich, erschreckend und unwirklich zugleich, dass es realistischer kaum geht.

Rijula Das hat mehr als sechs Jahre an diesem unfassbaren Roman geschrieben, der ehrlicher, härter und respektvoller nicht sein könnte und hat damit ein literarisches Portrait einer Gesellschaft geschaffen, die in keinem Wort weniger erklärt werden könnte. All die Verflechtungen, all die Leben, schrecklich, wie glücklich, finden ihren Platz in diesem unmöglichen Buch. Ich weiß nicht, ob „Die Frauen von Shonagachi“ ein Kriminalroman sind, ich weiß nicht, ob mich jemals wieder ein anderer Roman so überrollen kann, was ich weiß ist, dass ich glücklich bin und dankbar, dass Rijula Das „Die Frauen von Shonagachi“ geschrieben hat. Was für ein Buch. Was für eine Geschichte.

Else Laudan, Verlegerin und Übersetzerin bei Ariadne hat ein Wunder entdeckt und mit ihrer Übersetzung auch geschaffen und wieder gilt, „Don´t judge a Book by it´s Cover!“, weil: „Es haben mehr Dinge Platz zwischen zwei Buchdeckeln, als wir erahnen können.“


Die Frauen von Shonagachi
von Rijula Das
Ariadne 2023
978-3-86754-271-5

Hier geht’s zum Onlineshop


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