#15 Schöne neue Internetwelt

#15 Schöne neue Internetwelt

Oder: Warum es sich im Internet so leicht hasst und es trotzdem nicht in Ordnung ist, jemandem den Tod zu wünschen.

Germanys next Topmodel“. Schon mal gesehen. Oder zumindest davon gehört. Oder?

Fragwürdiges und mittlerweile nicht mehr zeitgemäßes Format. Keine Frage. Sieht man sich Folgen von vor etwa zehn Jahren an, wird einem schlecht – wenn eine Frau in Unterwäsche bekleidet von zwei Männern, die wohl 20, 30 oder 5000 Jahre älter sind als sie, „vermessen“ und für ihren Körper kritisiert wird, im Fernsehen, dann ist das nicht leicht auszuhalten. Heute, wo Diversität eine immer größere und wichtigere Rolle spielt, werden solche Szenen auch bei GNTM nicht mehr gezeigt. Nein, nein, denn „diversity“ ist nun ein Marketing-Tool. Egal wie du aussiehst, du hast die Chance Germanys next Topmodel zu werden. Plus Size und Transgender, sehr große oder eher kleinere Frauen, nun ist für jede Kandidatin Platz. Natürlich ist das schön. Schön wäre es aber auch, normale Frauen, als normale Frauen zu bezeichnen und nicht als diverse Frauen. Wäre zeitgemäßer. Finde ich.

Ich habe in den letzten paar Jahren zwei oder drei Staffeln der Reality-Serie verfolgt. Immer unter dem Deckmantel des kollektiven Erlebnisses, also mindestens zu zweit. Es war schon lustig. Ich kenne niemanden, der sich GNTM ansieht, weil es so interessant ist, wenn eine oder mehrere Frauen zu Models „ausgebildet“ werden. Darum geht es auch seit vielen Jahren nicht mehr, so mein Gefühl. Vielmehr geht es um die Kandidatinnen. Und um deren Verhalten und Beziehungen. Wer mag wen und wen nicht. Wer fällt negativ auf. Wer positiv. Wem wünschen wir den Sieg. Und wer soll gehen? Ich bin mir dabei fast sicher, dass die Person, die am wenigsten gemocht wird, die am meisten nervt und am meisten in die Kamera spricht, nicht so schnell gehen wird. Ob sie gut ist oder nicht. Wäre ja fad, wenn alle nett sind.

Eine Kandidatin, die wahnsinnig genervt hat, permanent was zu labern hatte und unglaublich unsympathisch rüberkam, ist Lijana Kaggwa, die 2020 bei GNTM mitgemacht hat. Nervig, Quatschkopf, unsympathisch, das war meine Meinung. So ging es vielen. Es war natürlich klar, dass sich das Ganze im Fernsehen abspielt und ich bzw. wir Lijana nicht kannten. Sie war ein Charakter in einer Show. Viele hatten jedoch schlimmere Gedanken. Beließen es nicht dabei, sondern ließen Taten folgen. Lijana stieg beim Finale aus. Freiwillig. Weil sie mit den Konsequenzen ihres Verhaltens nicht mehr umgehen konnte.
Moment … IHRES Verhaltens?

Da stimmt doch etwas nicht … Eine junge Frau geht zu GNTM, weil sie daran glaubt, dass sie es schaffen kann. Sie hat einen Traum. Sie möchte ihre Familie stolz machen, Gutes tun mit dem Erfolg und das als farbige Frau, die ihr Leben lang Rassismus ausgesetzt war. Nicht immer direkt, aber fast immer. Zu Beginn der Staffel weiß sie noch nicht, dass ihr Traum bald zum Albtraum wird, aus dem sie sich fast nicht mehr befreien können wird.

Lijana ist selbstbewusst und verabscheut Ungerechtigkeit. Lijana ist nicht schüchtern oder verschreckt. Pro 7 hat das Potenzial sofort erkannt. Und es so weit auf die Spitze getrieben, bis die kollektive Meinung feststand: Lijana mögen wir nicht. Lijana hassen wir. Der Schnitt macht es möglich – Aussagen werden aus dem Kontext gerissen, provokante Fragen werden so lange gestellt, bis die „richtige“ Antwort kommt und Momente, auf die man vielleicht selbst nicht stolz ist, werden für die Ewigkeit festgehalten.

Lijana hat ein Buch über ihre Erlebnisse bei GNTM und ganz generell über Cybermobbing geschrieben: „,Du verdienst den Tod!‘. Wie #Cybermobbing Menschen und die Gesellschaft zerstört und wie wir wieder mehr Respekt ins Netz bringen“. Lijana beschreibt dabei ihre eigenen Erfahrungen, wie sie GNTM erlebt hat, wie das Zusammenleben mit den anderen Kandidatinnen wirklich war und wie sie Opfer von Drohungen, Morddrohungen und Schlimmerem wurde. Sie spricht mit Experten und Expertinnen über Cybermobbing, sieht sich die rechtliche Lage genau an, bringt Beispiele, die aus den Medien bekannt sind, und versucht, und das sehr gut, einen Weg zu finden, um Cybermobbing in den Griff zu bekommen. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum.

Das Buch hat mich wütend und traurig gemacht. Es ist erschreckend, wie manipulativ im Fernsehen gearbeitet wird. Wohl wissend, dass für viele Zuseher und Zuseherinnen der Grat zwischen Reality-TV und Realität ein sehr schmaler ist. Schließlich wird die Fernsehrealität als Realität verkauft. Es ist erschreckend, wie grausam Menschen sein können, wenn sie anonym sind. Hasskommentare auf Facebook oder Instagram posten ist nicht schwierig. Privatnachrichten mit problematischem Inhalt zu verschicken auch nicht. Es ist erschreckend zu beobachten, wie sich der Mechanismus verselbstständigt und zur Negativspirale wird, aus der es für die Opfer kein Entkommen mehr gibt. Ob Online oder im echten Leben. Die Grenzen werden schwammig. Plötzlich stehen Menschen vor dir, die dich mit Steinen bewerfen oder bespucken. Nicht, weil du ein böser Mensch bist, sondern weil irgendjemand online gesagt hat, du wärst böse und würdest nichts als Hass verdienen.


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